Sonntag, der 6. September 1914. Dass an diesem Tag Australien den Davis-Cup im Tennis gewinnt, interessiert in Europa kaum jemanden. Die Menschen haben andere Sorgen. Der Erste Weltkrieg ist gerade einmal einen Monat alt, und der Hurra-Patriotismus, der zu Beginn in Frankreich ebenso wie beim Erzfeind Deutschland geherrscht hat, beginnt allmählich zu bröckeln, denn jetzt zeigt der Krieg seine furchtbaren Seiten. Allein vom 20. bis zum 23. August sterben rund 40 000 französische Soldaten, während sich die Deutschen auf der Siegerstraße befinden.
Aus dem „Großen Hauptquartier“ in einer ehemaligen Mädchenschule in Luxemburg berichtet Generalquartiermeister Herrmann von Stein an diesem 6. September im täglichen Heeresbericht: “ Seine Majestät der Kaiser wohnte gestern den Angriffskämpfen um die Befestigungen von Nancy bei. Von Maubeuge sind zwei Forts und deren Zwischenstellungen gefallen. Das Artilleriefeuer konnte gegen die Stadt gerichtet werden. Sie brennt an verschiedenen Stellen.“
Auch weiter westlich scheint der Siegeszug der Deutschen ungebrochen, denn statt – davon gingen die Franzosen aus – von Osten her über den Rhein die Grande Nation anzugreifen, hat das deutsche Herr das neutrale Belgien überfallen, ist um die französische Armee herum marschiert und stehen jetzt in Meaux und Montmirail an der Marne, die Hauptstadt Paris in 50 Kilometer Entfernung zum Greifen nah.
Dort herrscht verständlicherweise helle Aufregung, nicht nur wegen der nahenden Deutschen und der drohenden Nahrungsmittelknappheit. Der deutsche Heeresbericht scheint zu wissen: „Der Militärgouverneur von Paris, der die Stadt, so weit möglich, von überflüssigen Essern zu befreien sucht, erleichtert Familien die Abreise, indem er nach den Provinzen an der Grenze fortwährend unentgeltlich befördernde Züge laufen lässt. Alle gestern hier angekommenen Züge waren mit Flüchtlingen gestopft voll. Es kommen nicht bloß Pariser, sondern auch Bewohner der Umgebung von Paris an, da auf einen Umkreis von 30 Kilometer der Militärgouverneur alle Häuser hat räumen lassen, die dann vollkommen zerstört wurden.“
Noch wichtiger als die Sicherheit der Zivilisten ist dem Militärgouverneur der Hauptstadt, General Joseph-Simon Gallieni, aber die Antwort auf die Frage, wie er eine genügend große Zahl eigener Soldaten den Deutschen an der Marne entgegenwerfen kann. Dort haben sich zwar französische Truppen verschanzt, aber es sind zu wenige. Verstärkung ist dringend gefragt, und die Nachricht, dass britische Soldaten in großer Zahl zur Hilfe unterwegs sind, hat sich noch nicht herumgesprochen. Aber wie soll eine ganze Armee an die Front gelangen? Die meisten Transportkapazitäten befinden sich am Rhein, wo der Angriff der Deutschen zunächst erwartet worden war.
Ende des 19. Jahrhunderts hatte der französische Generalstab ausgesprochen wenig Interesse am Gebrauch von Autos im Militär gezeigt. Erst bei den großen Manövern 1906 und 1907 gab es – wenn auch halbherzig – Experimente mit Pkw-Konvois. Erst 1913 treibt Generalsstabskommandeur Joseph Joffre den Bau strategisch wichtiger Eisenbahnlinien und Fernstraßen voran und bringt ein Notstands-Gesetz zur zeitweisen Beschlagnahme von Kraftwagen und deren Chauffeure auf den Weg, um eine hohe Mobilität der Armee zu erreichen. Damit ordnet Gallieni am Dienstag, dem 1. September den Einzug aller in Paris verfügbarer Autos an. Doch von den normalerweise 10 000 motorisierten Fahrzeugen der Hauptstadt – fast ausschließlich Taxis – sind nur noch 3000 einsetzbar, die Fahrer der anderen sind längst der Generalmobilmachung gefolgt und befinden sich an der Front.
Die „Voiturettes“ bestimmen seit der Jahrhundertwende das Stadtbild von Paris. Den Namen „Taxi“ tragen sie, seit der deutsche Unternehmer Friedrich Wilhelm Gustav Bruhn den „Taxameter“ zur Bestimmung des Fahrpreises erfunden und ihn seit den 1890er Jahren auf Pferdedroschken montiert hat, wo das Gerät die Radumdrehungen misst.
In Paris beenden motorisierte Mietwagen bereits um die Jahrhundertwende die Vormachtstellung der Pferdekutschen. Ganz besonders populär sind in den Gründerjahren die bis zu 60 km/h schnellen Elektrotaxis vom Typ Jeantaud. Ab 1905 werden sie von den Renault Typ AG 1 mit Viertaktmotor verdrängt, die 1914 Weltgeschichte schreiben, weil sie als erste Autos überhaupt in einem Krieg eine Rolle spielen. Bruhns Taxameter ist es verdanken, dass ein Taxiunternehmen 1500 Autos dieses Typs bestellt, denn fortan wird automatisch berechnet, wie viel der Passagier zu zahlen hat: tagsüber 75 Centimes für die ersten 1200 Meter, danach alle 400 Meter zehn Centimes mehr. Nachts verdoppelt sich der Preis. Neben den Renaults gibt es als Taxis darüber hinaus noch einige Panhards, Clément-Bayards und Peugeots.
Der AG 1 erinnert immer noch stark an eine Pferdekusche: Der Fahrer sitzt im Freien, hinter ihm bietet ein geschlossener Aufbau Schutz und Platz für drei Mitfahrer samt Gepäck. Der Motor, ein Reihen-Zweizylinder, befindet sich vorne zu Füßen des Fahrers, leistet etwa acht PS und verbraucht sechs Liter Benzin auf 100 Kilometer. Mit einer Spitzengeschwindigkeit von 56 km/h ist er nicht nur sechs Km/h schneller als heutzutage auf den Straßen der französischen Hauptstadt erlaubt, sondern auch flotter als jedes Pferdefuhrwerk.
Das ist mit ein Grund dafür, dass frühmorgens am 6. September die Polizei in Paris damit beginnt, sämtliche Taxis zu stoppen und die Passagiere zum Aussteigen zu zwingen. An die Fahrer ergeht der Befehl, sich unverzüglich am Place des Invalides vor der Militärakademie im siebten Arrondissement einzufinden. Als an diesem Abend die Nacht hereinbricht, machen sich die ersten 250 Taxis im Schutz der Dunkelheit beladen mit jeweils fünf Soldaten über die Nationalstraße 2 auf in Richtung Marne. Insgesamt wächst die Zahl der beschlagnahmten Autos in dieser Nacht auf 1200 Taxis. Insgesamt transportieren sie an den folgenden zwei Tagen 6000 Soldaten der siebten Division an die Front. Später wird das französische Kriegsministerium sogar für die Fahrten bezahlen: 70 102 Francs bekommen die Chauffeure insgesamt, das waren allerdings drei Viertel weniger als sie eigentlich verdient hätten.
Heute gehören die Marne-Taxis zum Lehrstoff im französischen Geschichtsunterricht. Doch vieles hat sich im Lauf der Geschichte verklärt. So wurde zum Beispiel die Zahl der transportierten Soldaten im Lauf der Zeit vervielfacht und die Ansicht vertreten, dass die Taxis einen wesentlichen Beitrag zum späteren Sieg geleistet hätten. Doch all das gehört in das Reich der Legende. Wahr ist, dass die Schlacht an der Marne zu den wichtigsten Ereignissen der Weltgeschichte gehört und das Zeitalter der Stellungskriege von in Schützengräben verschanzter Soldaten einläutete. Dort, wo sich heute das Disneyland befindet, tobte eine erbitterte Schlacht zwischen Deutschen auf der einen und Franzosen, denen inzwischen englische Soldaten zur Seite stehen auf der anderen Seite. Insgesamt waren über eine Million Soldaten beteiligt. Da fielen die 6000 Taxi-Soldaten aus Paris als Reserve wohl kaum ins Gewicht.
Als General Joffre in der zweiten Septemberwoche 1914 den Angriff auf die Deutschen einleitet, befiehlt er, er „das eingenommene Gelände zu halten, koste es was es wolle, und sich eher an Ort und Stelle töten zu lassen als weiter zurückzuweichen“. Die Order löst einen gigantischen, noch nie erlebten Kampf aus, der sich über 400 Kilometer vom Elsaß bis Meaux über mehrere Tage ereignet. Es kommt nicht nur zu einer Schlacht, sondern eine tobt neben der anderen, und die Oberkommandos beider Seiten haben Schwierigkeiten, den Überblick zu erlangen.
Aufgrund schlechter Verbindungen zu den Armeeführern verliert auch der Deutsche Oberbefehlshaber Helmuth Johannes Ludwig von Moltke zusehends die Herrschaft über die operative Lage. Der Plan, Frankreich mit seinen Hauptkräften in kurzer Zeit besiegen zu können, ist endgültig gescheitert. Schließlich ordnet er den Rückzug an und meldet dem Kaiser: „Majestät, wir haben den Krieg verloren!“ Eine weitere Demütigung erlebt er danach, als der Kaiser ihn zwar im Amt belässt, de facto aber kaltstellt. Er muss am 14. September 1914 Erich von Falkenhayn im Amt des Chef der Obersten Heeresleitung weichen. Es folgt ein vier Jahre währender Zermürbungskrieg, an dessen Ende das Deutsche Reich besiegt und fast ganz Europa ruiniert war. Er fordert fast zehn Millionen Todesopfer und etwa 20 Millionen Verwundete unter den Soldaten. Die Anzahl der zivilen Opfer wird auf weitere sieben Millionen geschätzt.
Die Marne-Schlacht, die bis zum 12. September dauerte, gilt als Wendepunkt des Ersten Weltkriegs, weil sie den Vormarsch der Deutschen beendet. Bis heute streiten sich die Historiker darum, wie es zu der bizarren Order des deutschen Rückzugs kam, der sich psychologisch verheerend auf die Moral von Armee und Volk auswirkte. Fest steht jedoch: Sie war die erste Schlacht in der Weltgeschichte, in der Autos eine Rolle spielten. (ampnet/hrr)
Von Hans-Robert Richarz | Fotos: Auto-Medienportal.Net/Renault/Richarz
Daten Renault AG 1
Länge x Breite x Höhe (m): 3,60 x 1,55 x 2,15
Radstand (m): 2,62
Motor: Zweizylinder-Benziner, 1250 ccm
Leistung: 5,9 kW / 8 PS
Höchstgeschwindigkeit: 56 km/h
Durchschnittsverbrauch: 6 Liter
Leergewicht: 1055 kg