Von Peter Schwerdtmann
„Ist das nicht alles ein bisschen too much?“, fragte Entwicklungschef Prof. Thomas Weber bei der Präsentation der neuen Mercedes-Benz S-Klasse, zweisprachig, weil die Pressepräsentation im kanadischen Toronto stattfand und provokant, weil er die Antwort längst vorformuliert hatte: Auf der einen Seite gehe es um das Prinzip, um die technologische Spitzenleistung, auf der anderen Seite sei Luxus schon immer einer der stärksten Innovationstreiber gewesen.
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Derart eingenordet fuhren wir dem Highway 400 nach Norden, schon nach wenigen Kilometern genervt durch die schurgerade, leere und breite Straße und Tempo 100, manchmal auch Tempo 80 oder 90. Der Tempowechsel wurde zur einzigen Abwechslung. Da befasst man sich gern mit dem scheinbar überbordenden Angebot an Möglichkeiten in der S-Klasse. Bald hält der aktive Spurhalteassistent die Fahrbahnlinien im Blick und lenkt automatisch die paar leichten Kurven, die der Straßenplaner zu begradigen vergessen hatte, während der aktive Abstandsregler auf den Vordermann achtet und im Zweifel die S-Klasse bis zum Stand bremst und wieder anfährt.
Rundum bewacht vom Superhirn, dem vernetzten mit dem Bordcomputer vernetzten Sensorcluster aus Stereokamera sowie Radar-, Infrarot und Ultraschallsensoren sorgt die S-Klasse im Notfall auch für die Notbremsung, achtet auf Fußgänger, Tiere und den Querverkehr. Da kann man die Hände auch schon mal vom Lenkrad lassen, bis das Auto einen nach zehn Sekunden das erste Mal auffordert, wieder mal das Lenkrad in die Hand zu nehmen.
Wer in der Aufpreisliste die richtigen Kreuze gesetzt hat, kann das genießen. Selbst die ungewollte Wiederholung des Elchtests ist ausgeschlossen, weil das neue Nachtsichtsystem Menschen und Tiere rechtzeitig erkennt und sogar zwischen Mensch und Tier unterscheidet. Den Menschen leuchtet das Spotlight an – mehrfach, damit er gewarnt wird – der Elch wird nicht mit Licht irritiert, er erscheint nur auf dem Bildschirm im Blickfeld des Fahrers, wie der Mensch übrigens auch. Ich bremse auch für Tiere, im Zweifelsfall automatisch.
Der erste Schritt zum autonomen Fahren ist also geschafft. Und die Highways 400 und später 11 lehren uns, dass diese Art der Fortbewegung nicht nur komfortabel, sondern auch sicher ist, weil bei Langeweile und gähnender Leere der Sekundenschlaf nicht lange auf sich warten lässt, mit der S-Klasse eben ohne Folgen. Und es muss nicht immer der Highway in Nordamerika sein, die Nachtfahrt auf der Autobahn oder der endlose Stop-and-Go-Verkehr zählen auch zu diesen gefährlichen Situationen. Denen nimmt die S-Klasse die Risiken.
So ein ermüdender Highway legt einem noch ein paar weitere Morgengaben der S-Klasse nahe. Wenn der Motor bei gut 1000 Umdrehungen pro Minute (U/min) so gut wie nicht zu hören ist und Fahrgeräusche draußen bleiben, lockt natürlich das Spiel mit dem Infotainment. Auf den beiden, sehr breiten Bildschirmen unter einer gemeinsamen Hutze finden sich zwar die klassischen Rundinstrumente mit der Anzeige des Bordcomputers dazwischen und rechts die Darstellung der Navigation. Alles brillanter und größer, aber dennoch so, wie gewohnt, bis der Beifahrer die zahlreichen Einstellmöglichkeiten probiert. Kurz danach erleben wir die Massage nach der Heiße-Stein-Methode, hören Alicia Keys aus der Burmester-Anlage im auf die beiden Vordersitze abgestimmten 3D-Sound und diskutieren angesichts der Möglichkeit, den Sitz hinten rechts als Liegesitz einzustellen, wo bei diesem Auto eigentlich der bessere Platz ist. Im Luxus vorn links oder in der nicht minder luxuriösen Lounge-Atmosphäre hinten rechts. Verwöhnt wird man in beiden Sitzreihen mit eleganter Optik, erstklassiger Haptik und edlen Details, bis hin zum Duftstoß aus der Beduftungsanlage.
Spätestens hier stellt sich die Frage, ob das alles sein muss oder nicht doch ein bisschen „too much“ ist. Aufdringlich oder gar unangenehm ist selbst die Beduftung nicht, aber „nice to have“. Wer es sich leisten kann, wer beim Fahren nicht den Stress, sondern eher die Entspannung sucht oder in Ruhe die Möglichkeiten seines rollenden Internet-Hot spots ausnutzen will oder muss, der findet wohl kaum eine bessere Möglichkeit, mit dem Auto zu reisen.
Über Geld muss man an dieser Stelle nicht sprechen. Das entscheidet im Leben nun einmal immer über die Möglichkeiten des Einzelnen. Wer es hat, warum soll der sich nicht für ein elegant-dynamisches Automobil wie die S-Klasse entscheiden, von dem sein Hersteller sagt, es sei das beste der Welt.
Mehr denn je hat Mercedes-Benz die S-Klasse auf genau diese zahlungskräftige Kundschaft in den Boomregionen der Welt wie Nordamerika und Ostasien ausgerichtet. Das zeigt bereits die Tatsache, dass die S-Klasse auf der Basis des langen Radstands entwickelt wurde. Der bisher als Vater der Modellfamilie übliche kurze Radstand wird nun zu einer Variante, und man darf sich auf den XL und vielleicht auch noch auf einen XXL freuen.
In Deutschland wird die S-Klasse ab 20. Juli bei den Händlern stehen, als günstigster der S 350 Blue Technology für 79 789,50 Euro. In Toronto war zu hören, insgesamt 20 000 Bestellungen lägen schon vor, sicher keine zu diesem Einstiegspreis. Zwar ist die S-Klasse schon in dieser Basisversion gut ausgestattet, doch das volle Sicherheits-, Komfort- und Infotainmentpaket kostet noch einmal einen Kompaktwagen extra.
Wer den ganz großen Luxus beim Fahren sucht, der sollte in der Aufpreisliste das Kreuz für die Magic Body Control setzen. Die bügelt so ziemlich alle Löcher und Unebenheiten glatt, weil die Stereokamera sieht, was kommt und Federung wie Dämpfung sich dann darauf einstellen. Mit diesem System wird die heute übliche Schwelle in der Fahrbahn zu einem kaum spürbaren Aufschwingen der Karosserie.
Ach so, Motoren bietet Mercedes-Benz auch noch für die S-Klasse, alle leistungsstärker und verbrauchsärmer als die beim Vorgängermodell. Es fehlt auch nicht der Achtzylinder S 500 mit 4,7 Liter Hubraum, 335 kW / 455 PS und einem maximalen Drehmoment von 700 Newtonmetern, der die S-Klasse in 4,8 Sekunden von 0 auf 100 km/h wuchtet und mit einem Durchschnitts-Normverbrauch von 8,6 Litern angegeben wird. Der S 400 ist ein Benzin-Hybrid mit 306 PS, 370 Nm und einem Durchschnittsverbrauch von 6,3 Litern. Der S 350 Blue Technology ist ein Sechs-Zylinder-Diesel mit 258 PS, 620 Nm und 5,6 Liter Durchschnittsverbrauch. Meister im Verbrauch ist der Diesel-Hybrid S 300 Blue Technology Hybrid mit 204 PS, 500 Nm und nur 4,4 Liter, was Effizienzklasse A+ bedeutet.
Wir haben unsere Highway-Tour mit dem S 350 Blue Technologie und dem S 500 zurückgelegt. Beim Highway-Gleiten brauchten wir mit dem Diesel unter sechs Liter und auf der etwas bewegteren Streckenführung später mit dem S 500 um die zehn Liter. Aber Verbrauch ist nicht alles, das Vergnügen zählt in Fahrzeugen wie der S-Klasse mehr.
Bleibt die Frage zu klären, um die in diesen Tagen kein Auto-Autor herumkommt: Ist das nun wirklich das beste Auto der Welt? Es fällt angesichts unserer ersten Erfahrungen schwer, uns ein besseres vorzustellen. Mag sein, andere sind in einigen Disziplinen besser. Aber niemand ist weiter in der Entwicklung der Bordsysteme fürs Fahren, und niemand bietet in der Summe seiner Zielgruppe mehr als die neue S-Klasse. Mal sehen, was sich die Wettbewerber aus Deutschland einfallen lassen. Die nächste Runde des Wettrennens ist eröffnet, wie immer, wenn eine neue S-Klasse die Autowelt betritt. (ampnet/Sm)
Technische Daten: Mercedes-Benz S 350 Blue Technology (lang)
Maße (Länge x Breite x Höhe in m): 5,25 x 1,90 x 1,50
Motor: Sechs-Zylinder-V-Diesel, 2987 ccm, Common Rail, Abgasturbo
Leistung: 190 kW / 258 PS bei 3600 U/min
Maximales Drehmoment: 620 Nm zwischen 1600 und 2400 U/min
Leergewicht / Zuladung: 1995 kg / 715 kg
Höchstgeschwindigkeit: 250 km/h
Beschleunigung 0 auf 100 km/h: 6,8 s
Luftwiderstandsbeiwert: 0,24
Räder /Reifen: vorn 8,0 J x 17 / 245/55 R 17 W
Verbrauch (Schnitt nach EU-Norm): 6,0 – 5,6, Effizienzklasse A
Kohlendioxid pro Kilometer: 158 – 148 g (Euro 6)
Gepäckraumvolumen: 510 l
Basispreis: 85 323 Euro