Hintergrund: Nein zum Spion auf dem Beifahrersitz

Drahtlose Telematik-Technik im Fahrzeug kann dazu beitragen, den Komfort und die Sicherheit von Autofahrern zu erhöhen und als automatisches Notrufsystem E-Call nach einem Unfall sogar Menschenleben zu retten. Doch ungeachtet ihrer unbestreitbaren Vorteile stößt diese Technologie auf Kritik: So warnen nicht nur Datenschützer vor dem „gläsernen Autofahrer“. Versicherer und Verkehrsverbände dagegen befürchten, dass sich die Autohersteller mit der Telematik Wettbewerbsvorteile sichern wollen.

Das Goslar Institut, das den Versicherern nahesteht, brachte jetzt dieses in Zukunft konfliktreiche Thema mit Experten auf den aktuellen Stand. Am Rande des Goslarer Verkehrsgerichtstags ging der jüngste Goslar Diskurs am Donnerstag vergangener Woche der Frage nach: „Freiheit oder Freigang – wohin führt die zunehmende digitale Vernetzung im Kfz-Bereich?“

Ab Oktober 2015 sollen alle neu zugelassenen Pkw-Modelle (und jene leichter Nutzfahrzeuge) mit dem automatischen Notrufsystem für Kraftfahrzeuge E-Call (emergency call) ausgestattet werden. Dies sieht ein Vorschlag der EU-Kommission vor. Die E-Call-Technologie habe ein großes Potenzial, Leben zu retten, weil sie die Interventionszeit der Rettungsdienste drastisch verkürze, begründete EU-Verkehrskommissar Siim Kallas den Beschluss der Brüsseler Behörde. Sie geht davon aus, dass mit der neuen Technologie in Europa jedes Jahr rund 2500 Menschen weniger den Verkehrstod finden werden.

Der Innenausschuss des EU-Parlaments sprach sich am Donnerstag vergangener Woche ebenfalls für den Verordnungsentwurf der EU-Kommission zur Einführung von E-Call aus. Änderungsanträge, in denen einige Fraktionen forderten, Autofahrer sollten das System auf Wunsch deaktivieren können, konnten sich dabei nicht durchsetzen.

Auch zahlreiche Autofahrer plagen Vorbehalte gegen das lebensrettende System, wie eine Untersuchung von Professor Horst Müller-Peters vom Institut für Versicherungswesen der Fachhochschule Köln belegt. In der vom Goslar Institut im vergangenen Jahr in Auftrag gegebenen Studie mit dem Titel „Der vernetzte Autofahrer, Akzeptanz und Akzeptanzgrenzen von E-Call, Werkstattvernetzung und Mehrwertdiensten im Automobilbereich“ äußerten nur 20 Prozent der Befragten Bedenken, dass der Neupreis der Autos durch die Einführung von E-Call steigen könnte. Die damit verbundenen Mehrkosten sollen nach den Erwartungen der EU-Kommission lediglich mit rund 100 Euro je Fahrzeug zu Buche schlagen.

Mehr Sorgen bereitet Verkehrsteilnehmern, Datenschützern und auch Teilen der Politik die Frage, was mit den Daten geschieht, die im Auto erhoben werden. Denn das Fahrzeug stellt bei einem Unfall über das Handynetz eine Verbindung nach außen her. Diese könnte für eine externe Überwachung des Fahrzeuges und des Fahrers genutzt werden, lautet eine vielfach geäußerte Befürchtung. In der Studie von Professor Müller-Peters gaben denn auch immerhin 36 Prozent der befragten Autofahrer an, dass es sie sehr störe, wenn Daten aus ihrem Fahrzeug ohne ihre Kontrolle weitergegeben werden könnten.

Bei E-Call registrieren Sensoren im Auto den Unfall. Das System wählt daraufhin automatisch die europäische Notrufnummer 112 und stellt über das Mobilfunknetz eine Telefonverbindung zur zuständigen Notrufzentrale her. Zusätzlich zu der Sprechverbindung überträgt das Notfallsystem auch die Positionsdaten des Unfallautos sowie Informationen zu Unfallzeitpunkt, Fahrzeugtyp und Fahrtrichtung, so dass gegebenenfalls auch bewusstlosen Unfallopfern schnell geholfen werden kann. „Bei E-Call verlassen diese Daten ganz gezielt das Fahrzeug, damit bei Unfällen schneller gehandelt werden kann“, erläuterte Dr. Uwe Thomas, Vorsitzender des Bereichsvorstands Automotive Aftermarket der Robert Bosch GmbH. Einen solchen automatischen „Hilferuf“ können die Käufer von Fahrzeugen des Premiumsegments schon länger als kostenpflichtige Sonderausstattung ordern.

Als grundsätzlich problematisch wird beim Einsatz von Telematik im Verkehrsbereich – und dazu zählt E-Call – empfunden, dass die Computer und Steuergeräte in den Kraftfahrzeugen von heute nicht nur Informationen technischer Art aufzeichnen (können), also etwa zum Zustand oder der Funktionstüchtigkeit von Fahrzeugteilen. Vielmehr werden von der im Fahrzeug befindlichen Elektronik zunehmend auch Angaben zum Fahrverhalten und zum Profil der Piloten gespeichert. Solche Auskünfte können von großem Interesse sein, nicht nur für Polizei und Versicherungen.

Und die Palette der Informationen, die von den elektronischen Bauteilen im Auto registriert werden können, ist ebenso vielfältig wie umfangreich. Dies machte Dipl.-Ing. Jürgen Bönninger, Geschäftsführer der FSD Fahrzeugsystemdaten GmbH, einer von Kfz-Prüforganisationen gemeinsam ins Lebens gerufenen Non-Profit-Organisation, beim aktuellen Goslar Diskurs deutlich. Demnach kann die Auto-Elektronik Angaben erfassen:

  • Kilometerleistung
  • Bewegungsprofilen
  • Tag- und Nachtfahrten
  • Fahrten in unfallträchtige Ballungszentren
  • Fahrstil
  • Fahrten unter Alkohol- oder Drogeneinfluss
  • Fahrerwechseln
  • Verschleiß im Auto
  • Unfälle und Pannen (auch früheren)
  • Wartungshäufigkeit und –zeitpunkt
  • früher vorgenommene Reparaturen und Wartungen sowie selbst vorgenommenen Eingriffen am Fahrzeug.

Damit ließe sich ein detailliertes (Bewegungs-) Profil eines Autofahrers erstellen, befürchten Datenschützer. „Die meisten Autofahrer wissen heute gar nicht, welche und wie viele Informationen von ihrem Fahrzeug registriert werden“, stellte Matthias Knobloch, Generalsekretär des Verbundes Europäischer Automobil Clubs EAC, dazu fest.

Einig waren sich die Diskutanten in der Forderung nach Transparenz. Der Autofahrer sollte auch bei zunehmendem Telematik-Einsatz in den Fahrzeugen wissen, welche Daten sein Auto nach außen geben könnte und wer an diesen Daten ein Interesse hat. Er sollte über die Verwendung der gesammelten Daten ebenso frei entscheiden können wie etwa über seine Felgen, verdeutlichte Reinhard Dankert, Datenschutzbeauftragter des Landes Mecklenburg-Vorpommern das Problem aus Sicht der Datenschützer. Dabei gelte es zu unterscheiden zwischen jenen Informationen, die allein im Fahrzeug genutzt werden und die für das Funktionieren der Systeme im Auto erforderlich sind und Daten, die aus dem Auto nach draußen übermittelt werden, betonte Dankert. Auch nach Ansicht von Bosch-Experte Thomas muss sauber getrennt werden zwischen Daten, die im Fahrzeug allein genutzt werden, um Unfälle zu vermeiden und ganz allgemein die Sicherheit zu erhöhen, und denen, die das Fahrzeug verlassen. In dieser Hinsicht müsse „saubere Rechtssicherheit“ geschaffen werden bei der Trennung von fahrzeug- und personenbezogenen Informationen, sagte Dankert.

„Beim E-Call muss der Gesetzgeber mit der technischen Entwicklung Schritt halten“, forderte Rechtsanwalt Dr. Thomas Funke. Die EU habe die Wahlfreiheit des Autofahrers und die Chancengleichheit im milliardenschweren Ersatzteilgeschäft wirksam zu schützen. „Die Vernetzung des Automobils darf nicht zur Verzerrung des Wettbewerbs missbraucht werden“, so Funke.

Nicht wenige Kritiker reiben sich daran, dass die Telematik im auch von den Fahrzeugherstellern für ihre eigenen kommerziellen Zwecke genutzt werden kann, mit Folgen für den sogenannten Automotive Aftermarket, also die Anbieter von Reparaturen, Service, Ersatzteilen und Zubehör. Diese Problematik stellt sich besonders für die unabhängigen Anbieter. Denn durch die firmeneigenen Telematik-Systeme können die Hersteller Informationen etwa zu Wartungsintervallen oder anstehenden Reparaturen erhalten, von denen die freien Mitbewerber am Markt nicht ausgeschlossen werden dürfen, wie die Kritiker fordern. Denn dies hätte sonst relevante Wettbewerbsvorteile für einige Wenige zur Folge.

Ein solcher Informationsvorsprung für die Autohersteller muss nach den Worten von Klaus-Jürgen Heitmann, Vorstand der HUK-Coburg unbedingt verhindert werden. Er befürchtet, dass durch eine mögliche Datenhoheit der Automobilproduzenten diesen ein Anbietermonopol zufallen könnte, etwa was Pannenhilfe- und Werkstattdienstleistungen anbetrifft. Eine solche Entwicklung werde letztlich auf Kosten der Autofahrer gehen, warnte Heitmann. Nach seiner Einschätzung würde die Vorstellung, dass die Telematik den Verkehr nicht nur sicherer und das Autofahren komfortabler macht, sondern gegebenenfalls auf den „gläsernen Autofahrer“ hinausläuft, viele Kraftfahrer erheblich verunsichern. Deshalb dürfe diese Technologie sich nicht zu einem „Spion auf dem Beifahrersitz“ entwickeln, stimmte ihm Kfz-Experte Bönninger zu.

Gerade diese Angst vor einem „Big Brother“ im Auto wird jedoch verstärkt durch die Überlegungen einiger Versicherer, auch in Deutschland sogenannte Telematik-Tarife in der Kfz-Versicherung einzuführen. Bei derartigen Verträgen wird die Höhe der Prämien vom individuellen Fahrverhalten des Autofahrers bestimmt. Hierzu zeichnet die Elektronik im Auto bestimmte Informationen zur tatsächlichen Fahrzeugnutzung und zur jeweiligen Fahrweise auf, um diese Daten per Mobilfunktechnik an das betreffende Versicherungsunternehmen weiterzuleiten.

In Großbritannien und den USA haben Kfz-Versicherer bereits solche Telematik-Tarife im Angebot. In den Vereinigten Staaten können inzwischen auch Fahranfänger per Telematik-System überwacht werden. Hierzulande ist bislang nur ein Anbieter seit Jahresbeginn mit einem Telematik-Tarif am Markt.

Bei der HUK-Coburg glaube man aktuell nicht an den Erfolg solcher Offerten, sagte Vorstand Heitmann. Allerdings werde auch sein Unternehmen darüber nachdenken, telematikgestützte Hilfs- und Serviceleistungen bei Unfällen oder Pannen anzubieten, kündigte Heitmann an. Solange der Versicherer jedoch keinen Zugriff auf die Daten im Fahrzeug habe, müsste er für einen Einsatz von Zusatzequipment sorgen, durch den Kosten für das Versicherungsunternehmen und den Kunden entstünden, stellte er fest. Auch deshalb seien die Versicherer darauf angewiesen, dass sie den gleichen Zugang zu den im Auto erhobenen Daten erhalten wie die Autobauer, betonte der HUK-Coburg-Vorstand.

Bei allem Interesse an versicherungsrelevanten Informationen möchte jedoch auch der Versicherungsmanager verhindert wissen, dass mit E-Call bzw. der Telematik-Technologie in den Fahrzeugen generell – bei allen zugestandenen Vorteilen – die Grundlage für ein übergreifendes Überwachssystem geschaffen wird. Derartige Befürchtungen erhielten zuletzt zusätzlich Nahrung durch Medienberichte, dass die Unionsparteien sich in den Koalitionsverhandlungen zur neuen Bundesregierung dafür eingesetzt hätten, alle von dem Mautsystem erfassten Daten der Polizei zugänglich zu machen. Begründung: Gefahrenabwehr und bessere Möglichkeiten zur Verbrechensaufklärung.

Deshalb waren sich beim Goslar Diskurs alle Experten dahingehend einig, dass der Fahrer bzw. Autobesitzer grundsätzlich in die Lage versetzt werden muss, selbst zu entscheiden, welche Daten er preisgibt und wem er gegebenenfalls Zusatzinformationen zugänglich machen möchte. Ähnlich äußerte sich Ende vergangenen Jahres auch der Deutsche Bundesrat, als er für Nachbesserungen bei der Einführung des Notrufsystems E-Call plädierte. Nach Ansicht der Länderkammer muss insbesondere noch klarer geregelt werden, welche personenbezogenen Daten im Falle eines Notfalls übermittelt werden dürfen. Außerdem sprachen sich die Vertreter der Bundesländer in ihrer Stellungnahme zu E-Call dafür aus, festzulegen, welche zusätzlichen Informationen welchen privaten Dienstanbietern zugänglich gemacht werden sollen.

Über alle datenschutzrelevanten und rechtlichen Probleme hinaus hoben die Fachleute beim Goslar Diskurs aber auch einen Aspekt hervor, der in den Debatten um E-Call und Telematik im Auto oft untergeht: Die Frage nämlich, wie vor dem Hintergrund der fortschreitenden Vernetzung und Datenerhebung das Vertrauen der Autofahrer erhalten werden kann? Deshalb sollten sich alle Betroffenen gemeinsam für offene und sichere Plattformen einsetzen, im Sinne eines guten Datenschutzes und Vertrauen nicht zu verlieren, schlug Bosch-Manager Thomas vor. Denn dieses Vertrauen sei notwendig, wenn man die Vorteile, die modernen Technologien bieten, realisieren wolle, betonte er.

Dem stimmten die übrigen Gesprächsteilnehmer grundsätzlich zu, wobei Jürgen Bönninger zu bedenken gab, dass die hierzu erforderlichen gesetzlichen Regelungen vermutlich zu lange auf sich warten lassen werden. Deshalb plädierte er dafür, ein spezielles Zertifikat „datenschutzrechtlich unbedenklich“ für Telematikanwendungen einzuführen. Dieses Signet soll dem Autofahrer versichern, dass er keine Angst vor einem „Spion im eigenen Auto“ haben muss. (ampnet/Sm)

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Die Seite "Hintergrund: Nein zum Spion auf dem Beifahrersitz" wurde am 3. Februar 2014 veroeffentlicht und am 3. Februar 2014 zuletzt aktualisiert.